Festakt zum 35. Jahrestag mit Rede zur Demokratie
Das Gewandhausorchester unter der Leitung von Symon Bychkov spielte eingangs die Ouvertüre zur Oper »Fidelio« von Ludwig van Beethoven.
Leipzig ist die Stadt der Friedlichen Revolution und zwar nicht nur deswegen, weil das vor 35 Jahren hier stattgefunden hat, sondern weil es bis heute gelebt wird, mit dem Lichtfest, den großen Veranstaltungen.
Ministerpräsident Michael Kretschmer
Nach der Begrüßung durch Oberbürgermeister Burkard Jung erinnerte sich die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler an den Herbst 1989. In Berlin lagen zwei Tage und Nächte voller Gewalt hinter den Protestierenden. Auch am Abend des 9. Oktober hatten sie sich wieder in der Gethsemanikirche versammelt. »Wir wussten von den Gefahren für die Männer und Frauen, die sich in den vier Kirchen der Leipziger Innenstadt versammelt hatten. Was würde geschehen, wenn sie aus dem Schutz der Kirchen heraustreten würden?« Dann kam ein Anruf aus Leipzig mit der Information: »Der Ring ist zu. Wir verstanden ihn sofort. Die Leipziger waren ungehindert auf den Ring gelangt. (…) In der Gethsemanikirche brach Jubel aus und wir fielen einander in die Arme.«
Frau Birthler ging dann auf die Situation in Weißrussland und der Ukraine ein. Sie erinnerte an das Schicksal der in Belarus Verfolgten und Inhaftierten. »Wir befinden uns längst mitten in einem harten Kampf, nicht zwischen Ost und West, nicht zwischen links und rechts und auch nicht zwischen oben und unten; der Kampf, den wir bestehen müssen, ist der zwischen autoritären und liberalen Systemen, zwischen offenen Gesellschaften und Diktaturen, zwischen Menschen, die die Freiheit lieben und denen, die die Freiheit zwar im Munde führen, sie in Wahrheit aber verachten und bekämpfen.« Am Ende ihrer Rede sprach sie eine Empfehlung aus: »Lassen sie sich auf ein Leben als freie Bürgerin oder als freier Bürger ein, und ich sage ihnen voraus, dass es sie glücklicher machen wird.«
Ministerpräsident Michael Kretschmer hob die Bedeutung der Stadt Leipzig als Stadt der Friedlichen Revolution hervor. An keinem anderen Ort in Deutschland werde eine derartig intensive Geschichtsarbeit aus der Stadtgesellschaft heraus gelebt. Als besonders »wohltuend« stellte er heraus, dass der lange Weg zu einem Freiheits- und Einheitsdenkmal nun zu einem »ganz tollen Entwurf« geführt habe. Er erinnerte an das Plakat mit dem Wunsch nach einem »offenen Land mit freien Menschen«, dass bereits am 4. September öffentlich getragen worden sei. Es folgten »Keine Gewalt!« und schließlich »Wir sind das Volk« und »Wir sind ein Volk«.
Vor fünf Jahren hätten wir noch darüber diskutiert, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Diese Frage sei inzwischen beantwortet; es habe sich viel getan, auch in den Schulen. Nun käme es darauf an, den Glücksmoment von 1989 nicht nur einfach hinzunehmen, sondern ihn weiterzuentwickeln. Die Revolution habe ihre Kinder nicht gefressen. Der Ministerpräsident plädierte dafür, wieder mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und forderte eine »anständige Diskussionskultur«. »Nur, wenn wir bereit sind, unsere Unterschiedlichkeit anzunehmen, werden wir ein Land sein.«
Am 9. Oktober 1989 hätten die mutigen Bürgerinnen und Bürger in Leipzig die Welt verändert, meinte Bundeskanzler Olaf Scholz zum Beginn seiner »Rede zur Demokratie«. »Wir sind das Volk« sei ein Satz gewesen, »dessen Entschlossenheit ein ganzes System aus den Angeln hob«. Der Bundeskanzler verwies auf die Vorgeschichte: »Opposition und Widerstand hatte es in der DDR immer gegeben, trotz Repression, auch nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand des 17. Juni 1953 und besonders seit Beginn der 1980er Jahre.«
»Als die Bürgerinnen und Bürger an diesem 9. Oktober von den Holzbänken der Nikolaikirche aufstanden, wussten sie deswegen nicht, wie weit sie kommen würden. Sie wussten nicht, ob sie nachts wieder in ihren eigenen Betten liegen könnten oder ob sie auf dem kalten Asphalt, im Arrest, in der Notaufnahme enden würden. Und doch gingen sie los, jede und jeder Einzelne mit Furcht, zusammen aber mit unglaublichem Mut.« Auch der Bundeskanzler plädierte dafür, sich für die Freiheit der Ukrainer und ihr Recht auf Demokratie und Frieden einzusetzen. »Heute ist es die Ukraine, die in Europa an vorderster Front die Freiheit verteidigt. Wir werden, wir müssen sie dabei unterstützen, bis endlich ein gerechter Frieden herrscht.«
Olaf Scholz erwähnte auch die Enttäuschungen und Narben, die die Umbruchjahre ab 1990 hinterlassen hätten. Die Menschen in der DDR seien durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik »plötzlich zu Bürgerinnen und Bürgern eines Landes geworden, das sie selbst nicht mit errichtet und auch nicht ausgestaltet hatten«. Gefeiert werde also keine perfekte Einheit und schon gar nicht vollständige Einigkeit. »Wir feiern nicht, dass uns alles gelungen ist, sondern wir feiern, wie viel uns trotz allem gelungen ist. Wir sind ein Volk – trotz aller Schwierigkeiten, trotz aller Fehler, trotz aller Widerstände. Uns eint mehr, als uns jemals trennen kann. Das ist die Lehre der Geschichte, um die es am heutigen Tag geht. Das sollten wir uns überall in Deutschland unermüdlich immer wieder sagen.«